Eine Zukunftsskizze des Schwingsports

Quelle: «Schwere Kerle rollen besser» – Autor: Linus Schöpfer (2019)
Bearbeitung: feldwaldwiesenblogger

Zukunftsskizze des Schwingsports? Nein, heute geht es ausnahmsweise nicht um die nahe Zukunft in der Corona-Pandemie, um die Frage, wann die Schwinger den Trainingsbetrieb im Sägemehl wieder aufnehmen dürfen. Dies dürfte laut jüngsten Berichten und Aussagen vermutlich im März wieder der Fall sein.
Nein, ich möchte vielmehr eine allgemeine Zukunftsskizze von Linus Schöpfer heranziehen. Um sich selber seine eigenen Gedanken machen zu können.

Der nachfolgende Text stammt aus Linus Schöpfer’s Buch «Schwere Kerle rollen besser». Schöpfer widmet sich im letzten Kapitel um das «Wie weiter?». Er macht sich dabei vor allem Gedanken um das ESAF, das mit Abstand grösste aller Schwingfeste. Etliche Kritiker sehen im «Eidgenössischen» eine Kommerzialisierung des Schwingsports und ein Zurückdrängen des Brauchtums. Doch Schöpfer sieht noch lange nicht das Ende des Schwingens. Denn dieses hat sich in der Vergangenheit ständig neu erfunden.

Linus Schöpfer ist Historiker und Kulturjournalist. Er erzählt im besagten Buch vom Schwingen als Bühne menschlicher Dramen und als Spiegel der Schweizer Geschichte – Schwingen: der Lieblingskult der Eigenossen.
Ich kann dieses Buch jedem Schwingerfreund wärmstens empfehlen.


Das Buch «Schwere Kerle rollen besser» – «Warum die Schweiz das Schwingen erfand» erzählt eine interessante Kulturgeschichte über unseren Nationalsport
Bild: «Schwere Kerle rollen besser»

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Die Sehnsucht nach einem urtümlicheren Schwingen ohne Zwang und Kalkül
Ein Wanderer schreibt, nachdem er ein lokales Schwingfest in den Bergen besucht hat: «Ich habe dieses Fest immer weit interessanter gefunden, als die angeordneten Feste bey Unspunnen, wo das Ungezwungene fehlt.» Jeder schwinge, wann er will, und so erscheine der Mensch in «seiner ächten glücklichen Freyheit». Wer schreibt diese nostalgischen Zeilen? Es ist kein anderer als Franz Niklaus König, der sie 1814 in seinem Buch «Reise in die Alpen» notiert. Die Sehnsucht nach einem urtümlicheren Schwingen ohne Zwang und Kalkül erfasste also bereits ihn, den Erfinder des Unspunnenfests.

Das Schwingen, die Bratwurst und am Abend eine gute Party
Die Sehnsucht ist nicht kleiner geworden seither. Als der Berner Schwingerkönig Matthias Glarner 2017 bei einem Foto-Shooting vom Dach einer Seilbahngondel stürzt, ist für das Onlineportal «watson.ch» der Fall klar: «Ein König als Opfer des Geldes». Überall ist die Klage zu hören, das Eidgenössische als Hauptfest des Schwingens sei zu einem blossen Event verkommen, der Kommerz habe das Brauchtum verdrängt.
Man kann den Erfolg des Schwingens, des «Eidgenössischen» und die hervorragenden TV-Quoten auch anders sehen. Hunderttausende haben sich mittlerweile daran gewöhnt, die Kämpfe im Fernsehen zu schauen, vor Bildschirmen. Eine Umfrage der Hochschule Luzern zeigt, dass drei Viertel der Besucher des «Eidgenössischen» in Burgdorf 2013 die Live-Übertragungen auf den großen Screens des Festgeländes als «gerade richtig» schätzten. Und auch das viel kritisierte, ins Gigantische gewachsene Drumherum der Ess-, Trink- und T-Shirt-Stände und der Festzelte – es stört die meisten gar nicht. Im Gegenteil: 57 Prozent empfanden in Burgdorf die Anzahl der Verkaufsstände «gerade richtig», 56 Prozent empfanden die Größe des Festbetriebs «gerade richtig» oder sogar zu klein. Die Studie hält fest, dass die Besucher hauptsächlich wegen des Schwingens und des Festbetriebs kämen. Nur vier Prozent der Besucher schauten sich das traditionelle Hornussen an. Vielleicht bekommen die Schweizerinnen und Schweizer erst jetzt, was sie wirklich wollen von den Schwingfesten: das Schwingen, die Bratwurst und am Abend eine gute Party.


Das ESAF 2019 in Zug war ein Fest der Superlative: Eine Arena mit 56’500 Plätzen und rund 420’000 Besucherinnen und Besucher während den drei Festtagen
Bild: esafzug.ch

Wohin treibt die Kommerzialisierung das Schwingen?
Natürlich fragt man sich, wohin die Kommerzialisierung das Schwingen treibt. Zwischen 2000 und 2010 verwandelten sich die besten Schwinger zu Pseudo-Amateuren mit kleinen Arbeitspensen. Vorbei ist die Zeit, in der sich ein Schwingerkönig mit dem Rollen von Käsen oder dem Hieven von Heuballen die nötigen Muskeln angeeignet hat. Die Einkommen stiegen in Manager-Gefilde, die Trainingsbedingungen und Ernährungspläne wurden raffinierter. Ab und zu wurde einer beim Dopen erwischt.

Hat sich der Kommerz auch hörbar durchgesetzt?
Wenn die beiden Teilnehmer des Schlussgangs in den 2010er-Jahren einliefen, ertönte kein Alphorn oder Örgeli, sondern «Conquest of Paradise». Ein bombastischer, pseudo-sakraler Popsong, komponiert von Vangelis, einem griechischen Synthesizer-Künstler, der berühmt geworden ist für seinen Soundtrack zu Ridley Scotts Science-Fiction-Film «Blade Runner». Den Traditionalisten in den Zuschauerrängen musste das vorkommen, als habe sich der Kommerz damit auch hörbar durchgesetzt auf den Schwingplätzen, als habe er sich das «Paradies» Schwingen definitiv erobert.


Die vier letzten Schwingerkönige, allesamt Berner, blieben trotz der Kommerzialisierung auf dem Boden und sind der Tradition verbunden
Bild: Matthias Sempach (Instagram)

Vergleich mit anderen Kampfsportarten
Andere Kampfsportarten lassen vermuten, welche Entwicklung das Schwingen nehmen könnte. Im Boxen kam es nach der großen Zeit um Ali, Foreman und Frazier zu einem Durcheinander der Titel und Verbände und zu absurden Hypes um dubiose Kämpfe. Promoter und Funktionäre machten noch ein paar Jahre ordentlich Geld, doch der Glanz der Ali-Ära verflüchtigte sich. Heute ist das Boxen wieder eine Randsportart von zweifelhaftem Ruf.

Noch lange nicht das Ende des Schwingens
Das Schwingen ist nicht gefeit vor solchen Entwicklungen. Die Eigenart, dass auch Verbandskollegen gegeneinander antreten müssen, und die undurchsichtige Arbeit der Einteilungsrichter machen es sogar besonders anfällig für Absprachen und Mauscheleien. Je größer die Summen im Spiel, desto größer die Verlockung. Was, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass ein mittelmäßiger Schwinger und ein Top-Athlet einen Schaukampf aufführten, damit der Spitzenmann einen besonders spektakulären Schwung zeigen konnte? Gut möglich, dass die Menschen dennoch kämen und sich das Schwingen der irreführenden englischen Übersetzung vom «Swiss Wrestling» allmählich anpassen würde. Vielleicht verlöre das Eidgenössische durch solche Skandale aber tatsächlich an Reiz, würde anrüchig. Vielleicht kämen dann plötzlich nur noch ein paar Tausend an die Feste.
Doch damit wäre noch lange nicht das Ende des Schwingens gekommen. Dann schlüge die Stunde des nächsten Königs, Schärers, Zschokkes. Dann könnte das Schwingen neu erfunden werden, einmal mehr.

feldwaldwiesenblogger

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